Spitze für alles und jeden
Die Welt bewegt sich und mit ihr auch die Spitze – wohin, erklärt Fashionspezialistin Christel Aarts
Spitze schmückt, verführt und betört, und das seit ihren Anfängen im 15. Jahrhundert. Damals wurde der Grundstoff zwischen bestickten Stellen herausgetrennt und die Weißstickerei entwickelt. Die filigranen Waren haben sich seitdem immer wieder verändert. Heute stehen sie mehr denn je auf dem Prüfstand.
Moderne Garne, Hightech-Maschinen und optimierte Ausrüstungsprozesse bieten bisher vollkommen unbekannte Gestaltungsmöglichkeiten und damit Potenziale für neue Einsatzbereiche und Geschäfte. Die Branche ist auf dem Sprung – vom Wäsche- in das Sportswear-Segment, von den Regalen der Boutique für sie zu den Angeboten des Shops für ihn, von der traditionellen Dekoration zum funktionellen Fashionstatement. Vieles ist denk-, manches bereits machbar. KWP-Redakteurin Ulrike Schlenker sprach mit Innovationsberaterin Christel Aarts darüber, wohin die Reise geht.
US: Die digitalen Medien haben unsere Art zu kommunizieren verändert und beeinflussen sogar unsere Sprache. Gibt es Megatrends, die ihre Spuren auch in unserer Bekleidung und speziell in der Spitze hinterlassen?
CA: In der Vergangenheit wurden Modetrends von Designern und Branchenkennern wie Einkäufern großer Handelsketten und Zeitschriftenredakteuren bestimmt. Die Digitalisierung und Social Media haben die Macht in der Branche umverteilt, den Einfluss der durchschnittlichen Konsumenten und Social-Media-Influencer gestärkt. Der Durchschnittsverbraucher kann alle Trends sofort nachverfolgen, Laufstege in Echtzeit von seiner Couch aus betrachten und ein Outfit kaufen, das ein Blogger direkt von seinem Handy aus postet. Die Industrie ist sich dieser Veränderung bewusst und die Einbeziehung der Endverbraucher ist unerlässlich geworden. Als Endverbraucher denken wir allerdings gerne, dass wir uns durch den heutigen Zugang zu so viel mehr Informationen individueller ausdrücken können. Ich glaube, das Gegenteil ist der Fall: Soziale Medien lenken uns zu den gleichen Bildern. Modetrends sind eher global als lokal, und wir sehen immer mehr Hypes. Die Digitalisierung hat zudem die Visualisierung von Produkten verändert. Aspekte wie Farbe, Kontrast und Druck erhöhen die Wirkung auf dem Bildschirm und nehmen an Bedeutung zu. Spitze mit ihren Mustern, Farben und Texturen hat auch eine starke visuelle Wirkung und eignet sich daher sehr gut für die Darstellung im Internet. Dies wird durch den Fortschritt begünstigt. Neue Technologien machen Spitzenwaren für Kunden mit unterschiedlichen Budgets erschwinglich und damit zu einem Mainstream-Produkt, das an verschiedene Produktkategorien angepasst werden kann.
US: Apropos Produktkategorien: Athleisure, Swimtimate, Pyjama Dress – alle Welt spricht derzeit vom Genremix. Die reinen Sportswear-Kollektionen zur Outdoor oder ISPO zeigen allerdings nur sehr vereinzelt Spitzendetails im funktionellen Trikotambiente. Was muss Spitze können, um in Sportswear Einzug zu halten?
CA: In den letzten Jahren hat Spitze in der Outerwear stark an Akzeptanz gewonnen. Während sie in der Vergangenheit meist der Couture, Lingerie, Hochzeitsbekleidung und Nachtwäsche vorbehalten war, erleben wir eine Revolution in der Art, wie sich einerseits Spitzenwaren als Hauptmaterial in der Bekleidung und andererseits Wäsche und Pyjama-Style-Fashion als Oberbekleidung etablieren. Das hat ohne Zweifel auch Einfluss auf die Einstellung der Sportswear-Branche zu Spitze. Damit diese jedoch zu einem bahnbrechenden Produkt in der Leistungssportbekleidung wird, müssen wir das Konzept der Spitze überdenken. Wir müssen prüfen, wie ein Spitzenprodukt im Vergleich zu den derzeit verfügbaren Materialien für Sportbekleidung einen Mehrwert schaffen könnte, welche Eigenschaften das Material haben sollte und, schließlich, wie dieses aussehen sollte. In puncto Performance ist insbesondere die Verbesserung des thermophysiologischen Komforts und der Hautfreundlichkeit gefragt. Durch die Freiheit bei der Gestaltung von Spitze könnten beispielsweise elastische und Kompressionsstrukturen kombiniert werden, um die Bewegung zu unterstützen, zugleich Atmungsaktivität zu bieten und – in naher Zukunft – tragbare Sensoren zum Monitoring der Leistung zu integrieren. In puncto Design ist zu überlegen, von der typischen floralen zu einer grafischeren, vom Logo inspirierten Ausführung überzugehen.
US: Gibt es einen Weg, beispielsweise über grafische Designs, Spitze für die Männermode attraktiv zu machen?
CA: Spitze steht im Allgemeinen für „zerbrechlich“, „raffiniert“, „verführerisch“, „sinnlich“ – keine typisch männlichen Attribute. Der Blick auf die Langzeittrends zeigt allerdings die Auflösung und Überlagerung der Geschlechterrollen. Dies beeinflusst die Art, wie wir uns kleiden und was wir als akzeptabel empfinden. Bei den westlichen Frauen ist ein maskulinerer, tougher Dresscode angekommen. Bei den Männern haben wir in den letzten 20 Jahren einen starken Wandel gesehen – sowohl, was die Akzeptanz von Hautpflege- und Beauty-Produkten betrifft, als auch, was das Interesse an der eigenen Erscheinung und das eigene Styling angeht. Als Ergebnis gewinnt eine feminine Kleiderordnung langsam an Bedeutung. Der Gedanke an formelle Kleidung wie Hochzeitsanzüge und Hemden mag naheliegen, aber die größte Chance für Spitze könnte in der Sportbekleidung liegen, wenn wir das Konzept der Spitze grundlegend überdenken und ihre Performance, ihr Anfühlen auf der Haut und ihren Look ändern.
US: Zum Thema: „Spitze neu denken“ – was würden Sie sich als Beraterin im Bereich Textilinnovationen von einem Maschinenhersteller wünschen?
CA: Aus der Perspektive des Designs wünsche ich mir maximale Flexibilität und Anpassungsfähigkeit an unterschiedliche Garne, Texturen und Mustertechniken bei gleichzeitiger Einhaltung der technischen Standards und Kostenziele. Aus Innovationssicht wünsche ich mir Maschinen, die flexibel sind, kleine Stückzahlen umsetzen oder sogar Sonderanfertigungen ermöglichen, bei denen Nachhaltigkeit und Qualität und nicht die Kosten im Vordergrund stehen.
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